Wie ein PC-Spiel: Wenn wir mit dem Immunsystem verhandeln müssen

Manchmal fühlt sich meine tägliche Arbeit an wie ein Strategiespiel, das ich von meinen Kindern kenne. In diesen Spielen schließen sich unterschiedliche Charaktere zusammen – jeder mit einer eigenen Stärke. Der eine kann heilen, der andere schützt, der dritte greift an, der vierte analysiert. Nur gemeinsam gelingt es, den übermächtigen Dämon zu bezwingen.

Ganz ähnlich ist es, wenn wir gegen das Immunsystem arbeiten müssen – oder besser gesagt: mit ihm verhandeln. Denn bei vielen Haarerkrankungen wie Alopecia areata, Lichen planopilaris, Frontal fibrosing alopecia oder Discoidem Lupus haben wir es nicht mit einem Feind zu tun, den man einfach „besiegen“ kann. Wir stehen vielmehr einem brillanten, lernfähigen Gegner gegenüber – dem eigenen Immunsystem.

Der brillante Gegner

Das Immunsystem ist in seiner Intelligenz beeindruckend. Es erkennt, erinnert sich, passt sich an – und verteidigt den Körper mit enormer Präzision. Doch manchmal richtet sich diese Kraft gegen Strukturen, die sie eigentlich schützen sollte: die Haarfollikel. Plötzlich wird der ehemals treue Wächter zum unberechenbaren Dämon im Spiel.

Starker Angriff oder kluge Strategie?

Täglich stehe ich vor der Entscheidung:

Soll ich mit einem mächtigen Einzelzauber (also einem starken Immunsuppressivum) versuchen, den Dämon direkt zu stoppen – oder lieber mehrere mildere Strategien kombinieren, um ihn Schritt für Schritt zu besänftigen?

Beides hat seinen Platz. Aber ähnlich wie im Spiel ist der kluge Weg oft der nachhaltigere: Nicht rohe Gewalt, sondern Koordination, Geduld und Balance führen zum Ziel.

Das Team im Einsatz bei vernarbenden Haarausfall (in Auszügen)

In der Medizin sieht dieses „Team“ ganz anders aus – aber die Idee ist dieselbe wie im PC-Spiel: Verschiedene Charaktere mit unterschiedlichen Fähigkeiten arbeiten zusammen, um einen übermächtigen Gegner – in unserem Fall das fehlgeleitete Immunsystem – zu kontrollieren.

🟤 Auf die Kopfhaut ausgerichtet

Kopfhautgerichtete Therapien sorgen dafür, dass das „Spielfeld“ gesund bleibt und keine zusätzlichen Störfaktoren die Entzündung verschärfen.

Dazu gehört die Behandlung begleitender Erkrankungen wie seborrhoischer Dermatitis oder Follikulitis, z. B. mit:

Selen­sulfidKetoconazol oder Shampoos mit Salicylsäure,

• ggf. Epikutantestungen, wenn der Verdacht auf Kontaktallergien besteht.

Wichtig ist auch die Beachtung der möglichen Assoziation zwischen Körperpflegeprodukten und FFA (Frontal fibrosing alopecia).

Empfohlen wird die Vermeidung bestimmter chemischer Sonnenschutzmittel (v. a. mit Titandioxid) und stark okklusiver Pflegeprodukte, wenn sie entzündliche Prozesse begünstigen könnten.

Eine gesunde Kopfhaut bildet die Voraussetzung für jede weitere Therapie – vergleichbar mit einem stabilen Spielfeld, auf dem alle anderen Strategien erst funktionieren können.

Dazu gehört auch etwas so Einfaches wie regelmäßiges Haarewaschen, um Talg, Mikroben und Entzündungsmediatoren zu reduzieren.

🟣 Auf Entzündung ausgerichtet

Hier spielen lokale Therapien die Hauptrolle.

Topische Kortikosteroide wie Clobetasolpropionat oder Betamethasonbilden oft die erste Verteidigungslinie – sie wirken gezielt dort, wo die Entzündung sitzt. Ergänzend kommen Calcineurin-Inhibitoren wie Tacrolimus oder Pimecrolimus zum Einsatz – besonders an empfindlichen Arealen wie Gesicht, Augenbrauen oder Stirnrand, um steroidbedingte Nebenwirkungen zu vermeiden.

Wenn der „Dämon“ stärker ist, müssen systemische Strategien her.

Antimalariamittel wie Hydroxychloroquin wirken immunmodulierend und gelten bei Lichen planopilaris oder discoidem Lupus als bewährte Teammitglieder.

Auch Tetracyclin-Antibiotika wie Doxycyclin unterstützen durch ihre antientzündliche Wirkung. 

In schwereren Fällen kommen Retinoide (z. B. Isotretinoin) oder systemische Immunsuppressiva zum Einsatz, um den Entzündungsprozess zu bremsen, bevor bleibende Schäden entstehen.

Neue Hoffnungsträger sind JAK-Inhibitoren (Baricitinib, Ritlecitinib, Upadacitinib), die gezielt in die Signalwege der Autoimmunreaktion eingreifen. Sie sind wie präzise programmierte „Codezeilen“ im Spiel: Sie ändern die Spielregeln direkt auf molekularer Ebene.

🟠 Auf Haarwachstum ausgerichtet

Hier steht die Regeneration im Vordergrund.

Minoxidil – topisch oder oral – stimuliert die Durchblutung und verlängert die Wachstumsphase der Haarfollikel.

🟥 Hormonell ausgerichtet

In bestimmten Fällen gehören antiandrogene Strategien und Hormonmodulatoren ins Team. Ziel ist es, hormonelle Einflussfaktoren zu stabilisieren, um das Gleichgewicht im „System“ wiederherzustellen.

🟢 Alternativhaar

Und schließlich gibt es die leisen, aber unverzichtbaren Begleiter:

Alternativhaar, Perücken, Haarteile oder ästhetische Lösungen sind keine „Niederlage“, sondern Teil der Gesamtstrategie.

Wie im Spiel kann man manchmal nicht alle Lebenspunkte zurückgewinnen – aber man kann weiterspielen, mit Stärke, Anpassung und neuer Ausrüstung.

Wie in einem Rollenspiel arbeiten alle „Charaktere“ zusammen – mit dem Ziel, das Immunsystem zu beruhigen, statt es zu zerstören.

Der Sieg bedeutet nicht Vernichtung

Wenn das gelingt, ist der Dämon nicht besiegt, sondern kontrolliert. Er bleibt Teil des Systems – aber unter Kontrolle, ohne Schaden anzurichten. Das ist das eigentliche Ziel: Koexistenz statt Krieg.

Und genau wie im Spiel gibt es Rückschläge, Level-Ups, neue Strategien. Aber wenn das Team aus ÄrztIn, PatientIn und Therapieplan zusammenhält, lässt sich auch der brillanteste Gegner zähmen.

Dieser Artikel wurde verfasst von Dr. Karin Beyer, Fachärztin für Dermatologie und Venerologie.

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