Krebs und Haarausfall – mehr als nur eine Nebenwirkung

Krebs ist eine der häufigsten Erkrankungen unserer Zeit – etwa jede 30. erwachsene Person weltweit erhält im Laufe ihres Lebens eine Krebsdiagnose. Jedes Jahr werden über 20 Millionen neue Krebsfälle gemeldet. Für viele Patientinnen und Patienten gehören nicht nur die Diagnose und Therapie, sondern auch die damit verbundenen körperlichen und seelischen Veränderungen zur Realität – eine davon ist der Haarausfall.

Warum verlieren Krebspatient:innen ihre Haare?

Rund 60–70 % aller Krebspatient:innen erhalten eine systemische Therapie (z. B. Chemotherapie), etwa 50–60 % werden irgendwann bestrahlt, und viele weitere werden operiert. Viele dieser Therapien können zu Haarveränderungen führen – besonders die Chemotherapie.

Die Zellen der Haarwurzel gehören zu den teilungsaktivsten Zellen des Körpers. Genau das macht sie anfällig: Chemotherapien oder andere Krebsmedikamente greifen schnell wachsende Zellen gezielt an – leider nicht nur Krebszellen, sondern auch Haarwurzelzellen. Die Folge: Die Haare fallen aus, oft rasch, diffus und am ganzen Körper. In vielen Fällen wachsen die Haare nach Therapieende wieder nach – doch nicht immer vollständig oder mit der ursprünglichen Haarstruktur.

Wer ist betroffen?

– 65 % der Patient:innen mit klassischer Chemotherapie

– 30 % der Patient:innen mit gezielten (targeted) Therapien

– 2 % der Patient:innen mit modernen Immuntherapien (z. B. Checkpoint-Inhibitoren)

Manche Patient:innen berichten sogar von dauerhaften Haarverlusten – eine sogenannte “persistent chemotherapy-induced alopecia (pCIA)”, bei der das Haar nicht oder nur unvollständig nachwächst.

Welche Haarveränderungen können auftreten?
Neben Haarausfall gibt es eine ganze Reihe weiterer Veränderungen:
Veränderung der Haarstruktur: Krauses Haar wird plötzlich glatt, glattes Haar wächst lockig nach. Das kann während oder nach der Therapie auftreten.
Pigmentveränderungen: Manche Medikamente führen zu Haaraufhellungen (Hypopigmentierung), andere zu dunklerem Haar (Hyperpigmentierung).
Häufig betroffene Medikamente sind z. B.:
– Pazopanib, Sunitinib, Regorafenib → Haaraufhellung
– EGFR-Inhibitoren (z. B. bei Darm- oder Lungenkrebs) → verstärkte Pigmentierung, besonders an Kopfhaut oder Gesicht
Vermehrter Haarwuchs (Hypertrichose) oder Hirsutismus: Einige Therapien können zu unerwünschtem Haarwuchs im Gesicht oder am Körper führen.
Narbenbildende Alopezie oder Autoimmune Alopezie: In seltenen Fällen können Immuntherapien Erkrankungen wie Lichen planopilaris oder Alopecia areata auslösen.

Psychische Belastung: Haarausfall tut weh – nicht nur äußerlich
Viele Patient:innen sagen:
„Ich weiß, ich sollte dankbar sein, dass meine Behandlung wirkt. Aber ich fühle mich so unglücklich wegen meines Haarausfalls.“
Diese Aussage ist kein Einzelfall – Haarausfall betrifft nicht nur das Aussehen, sondern auch das Selbstwertgefühl, das Körperbild, die Identität. Die psychische Belastung ist oft enorm.

Eine Studie aus Südkorea mit 168 Brustkrebspatientinnen zeigt:
55 % der Betroffenen berichteten über eine hohe psychische Belastung durch den therapiebedingten Haarverlust (chemotherapy-induced alopecia, CIA) (Choi EK, Kim IR, Chang O, et al. The impact of chemotherapy-induced alopecia on breast cancer patients: a qualitative study. Psychooncology. 2014;23(9):1035–1040)
Viele Patientinnen erleben Schuldgefühle – weil sie „eigentlich dankbar“ sein müssten, dass der Krebs behandelt wurde. Aber das veränderte Äußere lässt sie sich entfremdet, traurig oder „nicht mehr wie sie selbst“ fühlen.

Die Psychoonkologie, ein eigenes medizinisches Fachgebiet, beschäftigt sich genau mit diesen seelischen Auswirkungen von Krebserkrankung und Therapie: Angst, depressive Symptome, Stigmatisierung, Verlust von Selbstwertgefühl oder Kontrolle – all das kann sich im Erleben von Haarausfall bündeln.
Ein Teil der Betroffenen zögert sogar, eine medizinisch notwendige Therapie zu beginnen – aus Angst vor dem Haarverlust. Umso wichtiger ist es, dass diese Sorgen ernst genommen werden.

Was kann helfen?
Einige Maßnahmen können die seelische Belastung lindern oder das Haarwachstum nach der Therapie unterstützen:
– **Aufklärung**: Zu wissen, *warum* Haarausfall entsteht und *wie lange* er dauern kann, gibt Sicherheit.
– **Prophylaxe**: In bestimmten Fällen kann z. B. eine Kühlkappe den Haarverlust während der Chemotherapie vermindern.
– **Beratung zu Haarersatz oder Kopfbedeckung**: Perücken, Tücher oder Hüte – mit der richtigen Unterstützung kann ein neuer Look auch Stärke ausstrahlen.
– **Psychologische Begleitung**: Gespräche helfen, das seelische Gleichgewicht wiederzufinden.
– **Spezialisierte Haarsprechstunde**: Dermatolog:innen mit trichologischem Schwerpunkt können beurteilen, ob z. B. ein gezielter Haaraufbau oder eine medizinische Behandlung des Haarverlusts sinnvoll ist.

Fazit
Haarausfall bei Krebs ist mehr als eine „Nebenwirkung“. Er ist ein tiefgreifender Einschnitt in das Leben vieler Patient:innen. Und obwohl er oft vorübergehend ist, kann er stark belasten. Es ist wichtig, diese Belastung nicht zu unterschätzen – und sich nicht dafür zu schämen. Haarausfall verdient Aufmerksamkeit, Mitgefühl und medizinische Unterstützung.

Dieser Artikel wurde verfasst von Dr. Karin Beyer, Fachärztin für Dermatologie und Venerologie.

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